20.11.04: hier endlich
mein ausführlicher Bericht ...
(Stimmungs-)Phasen
im kanadischen Winter ...
Wie eine
Fieberkurve sieht der Verlauf der Stimmung während des Laufes aus. Am Start
strahlen manche Gesichter mit der Sonne um die Wette. Manche Gesichter
strahlen vielleicht auch Unsicherheit ob der Distanz, der zu erwartenden
Temperaturen oder sonstiger Anforderungen bei diesem Lauf aus, aber: alle
strahlen irgendwie ... Meine Stimmung ist jedenfalls im oberen Bereich! Die
letzten paar Tage vor dem Start waren teilweise schon eine Qual: Ist die
Pulka stabil genug? Wie kalt wird es während des Rennens werden (keine
Bange: es wird kälter ;-)? War die Vorbereitung richtig? Sind die Klamotten
warm genug? Kann man mit abgefrorenen Fußzehen noch Wettkämpfe laufen? So
oder ähnlich sind die Fragen, welche man sich in den letzten Tagen vor dem
Start stellt. Die letzten beiden morgen vor dem Start beim aufstehen die
gleiche Vorstellung: Wenn doch heute schon der Start wäre! Aber nein: statt
dessen diskutiert man doch wieder mit anderen Teilnehmern über die
Ausrüstung und geht doch noch mal in die Stadt, um noch weitere
Ausrüstungsgegenstände zu kaufen! Die Rohre für das Gestell der Pulka sind
doch noch zu dünn, also müßen da dickere Rohre her! Die müßen natürlich auch
noch montiert werden! Reichen die Gels? Soll man nicht doch noch ein paar
zusätzliche mitnehmen? Was haben denn die anderen noch dabei? Viele haben
Feuerstarter mit, um bei der Kälte ein Lagerfeuer anzünden zu können! Die
offenen Flammen sollen ja auch die Stimmung wieder etwas aufhellen!
(richtig, das tun sie auch, haben wir bei einem Lagerfeuer vorher, als wir
mit Hundeschlitten unterwegs waren, ausprobiert). Und das mit dem Lagerfeuer
hat ja während des Trainingslaufes nicht so geklappt! Ok, also gehen wir
auch Feuerstarter kaufen. Erhlich gesagt: wir haben ihn zwar mitgenommen,
aber ein Lagerfeuer haben wir dann doch nicht gemacht!
Aber nun ist es endlich soweit! Gedanken über
Änderungen an der Ausrüstung werden verdrängt, dazu ist es jetzt sowieso zu
spät! Das Rennen muß nun mit der vorhandenen Ausrüstung durchgestanden
werden! Alles andere braucht man eben nicht! Um es gleich vorweg zu nehmen:
es hat nichts wirklich gefehlt! Die Klamotten waren dick genug und die
Reservekleidung haben wir nicht gebraucht, hätten wir aber gehabt, wenn ...
Besser so!
Die Temperaturen bewegen sich so um den Nullpunkt, die
Läufer bewegen sich auf dem überwiegend zugefrorenen Yukon, was zu
steigender Körpertemperatur führt: nach den ersten paar Metern ist mir
wohlig warm! Man kann relativ gut laufen, die Pulka bremst einen gleichmäßig
und viele andere Läufer (es sind insgesamt 49 Läufer aus 13 Nationen auf den
Strecken Marathon, 100 Meilen bzw. 300 Meilen unterwegs) sind auch nicht
(viel) schneller als ich. Kann man eigentlich geniessen, oder? Ja! Noch.
Die Marathonis brauchen nicht soviel Ausrüstung und
dürfen daher ohne Pulka laufen. Die haben’s aber einfach! Das Eis unter den
Spikebewehrten IceBugs knirscht teilweise verdächtig! Das klingt so, als
würde man auf einer Bandsäge laufen! Aber nehmen wir mal an, das Eis wäre
stabil genug ... Kaum gedacht, passiere ich auch schon eine Stelle mit
offenem Wasser. Ups, na, da halte ich mal schön Abstand (andere auch
J)! Der Trail ist teilweise sehr
schmal, so dass man nur hintereinander laufen kann. Angie und ich können uns
immer nur in Trinkpausen unterhalten. Schade, die Landschaft ist sehr
beeindruckend, das würde ich gerne teilen ... Aber die Trinkpausen nutzen
wir, keine Sorge J. Bei einer
dieser Trinkpausen verliere ich einen meiner Handschuhe. Das merke ich erst
200m später, also: Pulka ausspannen und nochmal zurücklaufen! Och,ohne Pulka
geht das viel schneller und einfacher ... Und waren ja nur 2*200m extra!
Viel später erfahren wir, das Achim bei den 300 Meilen nach einer Pause
einmal 4 Stunden in die falsche Richtung gegangen ist. Bis er auf Mirko
trift, welcher sich über die Marschrichtung wundert. Ein Blick auf den
Kompaß genügt: „Achim, Du läufst in die falsche Richtung!“ Die Antwort: „Ja?
Na gut, dann dreh’ ich halt wieder um und lauf’ mit Dir weiter!“ Ist der
cool, Mann! 8 Stunden umsonst gearbeitet! Andere hätten erst mal den Schnee
(oder sonst was oder wen) getreten! Klar hätte das auch nichts geändert,
aber es ‚entnervt’ doch J. Da
bin ich doch mit meinen 400m noch gut bedient und meine Handschuhe habe ich
ja jetzt auch wieder alle... Die Tassen im Schrank sind auch noch da, keine
Sorge J. Robert hat sich
wahrscheinlich schon gedacht, daß viele Läufer den ersten Teil der Strecke
als sehr einfach empfinden. Er hat keine Mühen gescheut, diesen Eindruck
etwas abzumildern: als wir in die Nähe von Checkpoint 1 kommen und schon
ganz gespannt sind, wo der denn ist, sehen wir auch schon bald den Rauch vom
Zeltofen! Der ist ja gaaanz da oben! Nee, oder (das ist die erste Delle in
der Fieberkurve)? Na ja, wir sind ja noch relativ frisch und die Aussicht
auf die erste Ruhepause hebt die Stimmung ja auch schon bald wieder! Im CP
gibt’s dann erst mal was warmes zu trinken (so ne heiße Schokolade ist doch
was Feines ...) und zu essen. Dann den Kocher anschmeißen und Robert
Auskunft über den mitgenommenen Schlafsack geben und schon haben wir die
Lizenz zum weiterlaufen! Nein, halt: die 4 Stunden Zwangspause müßt ihr erst
noch absolvieren! Das müßen alle anderen auch!
Na gut, dann verkriechen wir uns in den Schlafsack.
Vorher wollte ich noch meine Blase am rechten kleinen Fußzeh (‚da hatte ich
bisher aber noch nie eine ...’) verarzten. Also: Compeed aus dem Packsack
raussuchen (sind im ‚Erste-Hilfe-Päckchen’ im Kochtopf verstaut, man spart
ja Platz wo es nur geht), dann den Packsack wieder einpacken. Und dann ist
das mühsam ‚rausgesuchte Compeed wie vom Erdboden verschluckt! So’n Sch… Da
ich jetzt keine Lust mehr habe, den ganzen Packsack nochmal auszuleeren und
ein neues Compeed zu suchen, beschließe ich, daß die Blase auch ohne Compeed
im Schlafsack bis morgen ruhen kann. Jetzt ist aber endlich ruhen angesagt!
Nur: das wissen die anderen Teilnehmer, Helfer und Snowmobilfahrer nicht. Es
herrscht dauernd Hektik und ich kann nicht einschlafen. Na ja, sind ja noch
fast 2 Stunden Zeit zum ausruhen, das klappt schon… Noch eine Stunde … noch
30 Minuten … Piep! Piep! Piep! Sagt meine Uhr: die Zeit zum ausruhen ist
vorbei! Na, da hab’ ich doch maximal 30 Minuten geschlafen, wenn das mal
reicht.
Keine weiteren Ausreden: raus aus dem Schlafsack. Oh,
kalt hier draußen (im Schlafsack war’s gemütlicher…). Jetzt versorge ich
erst mal meine Blase (Packsack ausräumen, Compeed raussuchen, Packsack
wieder einräumen). Klingt ganz einfach. Ist es aber nicht ganz: der Packsack
und dessen gesamter Inhalt haben sich an die Außentemperaturen von –12 °C
angepasst und sind entsprechend störrisch. Die ganze Packerei dauert und
dauert (und wir packen oft!). Wie soll ich denn bei den Temperaturen das
Compeed anwärmen? Klebt (Eis)kaltes Compeed auch? Also: das Compeed länger
als sonst mit der Hand erwärmen und dann klappt das schon. Derweil aber noch
die Füße im Schlafsack lassen, die werden sonst derweil ganz schön kalt… Das
einpacken der Schlafsäcke in den Packsack wärmt einen aber ganz schnell
wieder auf, hinterher bin ich (bzw. mein Körper) auf Betriebstemperatur.
Jetzt noch schnell am Zelt vorbei und abmelden und dann geht’s endlich
weiter! Im Zelt gibt es aber noch warmes Wasser und Eintopf. Na, da kann ich
doch nicht widerstehen! Die warmen Getränke und das Essen erhellen die
Stimmung wieder und so geht’s mit frischem Elan in die Nacht (es ist
mittlerweile 23:00, die ganzen Aktionenhaben doch wieder eine ganze Stunde
beansprucht)!
Endlich haben wir jetzt während dem Lauf auch ‚Average’
Temperaturen (wär’ ja sonst was für Weicheier gewesen ☺). Die nächsten 10
Meilen laufen wir noch auf dem Takhini River, bevor es auf den Dawson
Overland Trail geht. Dort ist erst mal Schluß mit laufen: hier geht es
teilweise ordentlich hoch und runter (ok, ok, runter kann man noch laufen
...). So langsam schleicht sich auch eine gewisse Müdigkeit ein. Wen
wundert’s: es ist ja noch mitten in der Nacht!!! Ein Astronomie-Programm hat
für die Zeit des Wettkampfes den Beginn des ‚Twilight’ für 6:20 vorhergesagt
– weit gefehlt: um 6:20 ist es noch stockfinster und nix mit ‚Twilight’.
Wir beschließen, am Trail eine Ruhepause einzulegen. Also: Pulka ordentlich
parken (am besten in Fahrtrichtung, so daß man nach der Pause nicht indie
falsche Richtung läuft), Schnee platt treten, Isomatte ausrollen (die
weigert sich liegen zu bleiben und will sich immer wieder zusammenrollen),
Schlafsäcke und Biwaksack vorbereiten und erst mal setzen ! Ups, ohne
Daunenjacke wird’s gleich saukalt, also: Daunenjacke anziehen!. Dann den
Kocher auspacken und aufbauen (dabei fallen einem fast die Finger ab vor
Kälte; besonders angenehm ist das wohltemperierte Metall!) , Kocher starten
(na ja, das klappt ja wenigstens ohne größere Probleme und warme Finger
kriegt man dabei auch), Schnee in den Topf und: nee, nee, nix fertig !!!
Geduld ist angesagt, viiiel Geduld! Bei der Gelegenheit stelle ich auch
fest, daß eine meiner Thermosflaschen fehlt; sie ist mir wohl während dem
letzten Streckenabschnitt klammheimlich aus dem Flaschenhalter gerutscht und
liegt jetzt einsam und verlassen auf dem Trail. Später erfahren wir von
Andreas, daß er die Flasche unterwegs gefunden und mitgenommen hat. Er hat
sich vorgestellt, was da wohl gutes in der Flasche sein könnte: frischer,
ordentlicher Kaffee (und nicht das in Kanada übliche braune Getränk), oder
vielleicht ein ordentliches Weizenbier, ein Zaubertrank wäre auch nicht
schlecht. Und was war drin? Hagebuttentee, gaaanz normaler Hagebuttentee! Na
gut, er hat die Flasche dann doch mitgenommen, wer weiß, wo man die nochmal
gebrauchen kann! Für mich ist das nicht weiter schlimm, wir brauchen nur
noch mehr Pausen zum Schneeschmelzen ...
Apropos Schnee: der ist mittlerweile geschmolzen und
das Wasser ist so temperiert, daß man damit einen Tee brauen kann! Tut der
gut! Angie ist mittlerweile so müde und fertig, daß sie keine Lust mehr hat,
eine Tomatensuppe mit mir zu essen (auch nicht, wenn ich sie ihr
zubereite!). Sie verkriecht sich in ihren Schlafsack und versucht, zu
schlafen. Ich genehmige mir ein Süppchen und verkrieche mich ebenfalls in
meine Mummeltüte! Mit dem Einschlafen habe ich auch keine Probleme, ich bin
auch fertig genug und bin sofort weg! Die Ruhe währt aber nicht lange, denn
Angie mosert: „mir ist trotz Daunenjacke im Schlafsack saukalt, ich muss
jetzt aufstehen und weiterlaufen!“. Na Klasse! Ein Blick auf die Uhr sagt
mir, daß ich doch geschlagene 10 Minuten geruht habe! Na, das kann ja heiter
werden! Mitterlweile kommt auch die Sonne zum Vorschein (es ist kurz nach
8:00, das Thermometer stabilisiert sich bei –16 °C), was bei uns beiden die
Stimmung doch so langsam wieder hebt. Angie verpflastert noch ihre Blasen
(die Begeisterung bei der Kälte steht ihr ins Gesicht geschrieben!) und
dann wieder alles einpacken (jetzt ist uns auch wieder etwas wärmer) und
weiterlaufen. Das packen dauert wieder unheimlich lange, da die Packsäcke
und deren Inhalt nun noch kälter sind. Da die Sonne aber jetzt so langsam
zum Vorschein kommt, geht es uns doch bald schon wieder viel besser! Wie
abhängig wir doch von der Strahlung sind! Irgendwie kommt einem das laufen
(oder besser wandern) doch nicht mehr so anstrengend vor! Die Sonne brennt
mittlerweile so vom Himmel, daß wir die Pulli’s unter der Jacke ausziehen
müßen! Das Thermometer zeigt allerdings immer noch –16°C! Überhaupt besteht
die Kunst unter diesen Bedingungen darin, die richtige Geschwindigkeit für
die Fortbewegung zu finden. Schnell genug, um nicht zu frieren, aber auch
nicht zu schnell, um nicht zu schwitzen (denn dann kühlt man während einer
Pause noch schneller aus). Na, ist momentan auch egal. Das Wetter ist
Klasse, die Landschaft Super! Die Stimmung ist auf dem ansteigenden Ast vor
CP2! Vor diesen hat Robert (oder wer auch immer) aber den ersten Overflow
gesetzt! Das ist eine Stelle, an welcher das Eis gerissen ist und sich
Wasser über dem Eis befindet. Je nachdem, zu welcher Zeit man an den
Overflow kommt, kann es sein, daß das ausgetretene Wasser schon wieder
gefroren ist (Glück gehabt!), so daß man einfach weiterlaufen kann. Ist das
Wasser noch flüssig, steht man vor einem Problem. Entweder man findet einen
Umweg, oder man muß durch das Wasser waten (wohl dem, der Neopren Überschuhe
oder etwas ähnlich wasserdichtes hat!). Bei Schnee wird das ganze noch
spannender: hier kann es passieren, daß man den Overflow gar nicht erkennt,
weil dieser unter der Schneedecke verborgen ist. Man wandert nichts ahnend
durch die Gegend und: Platsch hat man nasse Füße! Bei den Temperaturen
heisst das: raus aus dem Wasser, nasse Klamotten aus, trockene Klamotten an,
Feuer machen (am besten alles gleichzeitig) und dann langsam aufhören zu
zittern. Nein: keine Sorge – haben wir nicht erlebt. Aber alleine die
Vorstellung ... An diesem Overflow haben die Snowmobil Fahrer gut
vorgearbeitet und uns einen Umweg durch’s gebüsch gebahnt. Den kleinen Umweg
nehmen wir doch gerne in Kauf! Wer mag schon kalte Füße!
Kurz nach dem Overflow erscheint das Schild ‚YAU CP 10
Meilen’: nur noch 10 Meilen bis zum nächsten CP. Die Stimmung wird immer
besser! Ist doch alles halb so schlimm! Wenn nur diese elenden Steigungen
nicht wären. Ich kam zuhause nie auf die Idee, daß das hier ein Bergrennen
mit Pulka als Bremse werden könnte! Yukon Arctic hiess für mich immer:
zugefrorener Fluß, also ‚Brettleben’ und keine Berge! Aber wie das Leben
halt so spielt ...
Im laufe der Zeit stellen wir dann fest, wie stark die
Entfernungsempfindungen vom allgemeinen Zustand abhängig sein können: in
unserem derzeitigen Zustand ist der Unterschied zwischen 10 Meilen und
Unendlich unendlich klein. Der CP will einfach nicht erscheinen! Anderen
Läufern ging es wohl ähnlich, denn längs des Trail findet man so
motivierende Erkenntnisse wie ‚there is no CP2’ oder Fragen wie ‚how many
miles still to go?’ in den Schnee geschrieben. Einerseits beruhigt es, zu
wissen, daß es anderen Läufern auch so geht („Geteiltes Leid
...“),andererseits wären wir jetzt aber auch gerne im nächsten CP! So
langsam verschwindet die Sonne auch wieder vom Himmel und es scheint auch
wieder kälter zu werden, also ziehen wir die Pulli’s wieder unter die
Jacken! Dazu haben wir sie ja mit! Nach endlos erscheinenden letzten paar
Meilen (die Einschätzung der Entfernung funktioniert in diesem Zustand nicht
mehrbesonders präzise ...) kommt dann doch noch ‚Dog Grave Lake’ in Sicht.
Es kann auch nicht mehr weit bis zum CP sein, denn man kann das Holzfeuer
schon riechen. Ist ja interessant, wie schnell man als ‚Nicht-Trapper’
diesen Geruch erkennen kann! Und siehe da: nach weiteren 500m (wie gesagt,
das mit den Entfernungsangaben ...) kommt dann endlich das lange ersehnte
Zelt in Sicht! Ja: es ist ein Zelt und beheizt ist es auch noch!!! ImZelt
herrscht eine drangvolle, aber durchaus gemütliche Enge. Die Querseite ist
für Läufer zum schlafen bzw. ausruhen vorgesehen, neben dem Eingang gibt es
warmes Wasser und Getränke, auf der anderen Seite neben dem Eingang steht
ein Bollerofen und spendet erfreuliche Wärme! “Wollt ihr Tee, Schokolade
oder Kaffee“? Ja bitte, alles und in der Reihenfolge! Wir haben (wie viele
andere auch) einfach aus Faulheit („das dauert ja alles so furchtbar lange.
Bis man den Schnee geschmolzen und dann was zum trinken zubereitet hat ist
man ja halb erfroren“) viel zu wenige Pausen gemacht und vor allem viel zu
wenig getrunken. Wir mußten in den letzten paar Stunden (auch das mit den
Zeitangaben funktioniert nicht mehr so präzise ...) doch unsere
Getränkevorräte ordentlich rationieren, um ohne weitere Getränkepause hier
anzukommen! Sollte man ja eigentlich nicht tun, aber... Na gut, wir sind ja
angekommen, also hat es funktioniert! Nach erfolgtem Flüssigkeits- und
Nahrungszufuhr (es gibt leckeren Eintopf) ziehe ich erst mal meine Schuhe
und Socken aus. Die Socken hänge ich unter das Zeltdach zum trocknen auf (da
hängen auch noch andere, der Geruch kommt nicht nur von meinen ...). Ups,
wie sehen denn meine Füße aus? Als ob ich den ganzen Tag faul im Badewasser
gelegen hätte! Unsere Neopren-Gamaschen verhindern ja, das Feuchtigkeit von
außen in die Schuhe eindringt. Sie halten auch ordentlich warm (sogar Angie
hat keine kalten Füße!), aber: wo kein Wasser reinkommt geht auch keins
raus, unsere Füße schmoren im eigenen Saft! Die Bestandsaufnahme ergibt eine
neue Blase, diesmal unter dem rechten großen Fußzeh. Die ist zwar schon
ordentlich groß, hat mich aber beim laufen bisher noch nicht wirklich
gestört. Mit Blasen kann man leben (und auch laufen), mit abgefrorenen
Fußzehen wird das schon etwas schwieriger ... Und die Blasen lassen sich ja
mit Compeed auch einigermaßen im Griff halten. Also wieder den Packsack
auspacken, Compeed raussuchen (diesmal nicht wieder verlieren), die Blasen
öffnen und die überflüssige Haut abschneiden, Compeed ‚drauf und fertig.
Auch Angie hat weitere Blasen und bekämpft diese auf ähnliche Art und Weise
(„gib’ mir Schere, Nadel und Faden, und ich operier’ hier wie Rambo ohne
Betäubung!“).
Das mit dem ausruhen gestaltet sich etwas schwierig, es
ist kaum Platz vorhanden. Auf einem der Schlafplätze liegt Tom. Dieser hat
ähnlich wie wir zu wenig getrunken. Er ist völlig dehydriert, kann keine
flüssige oder feste Nahrung mehr bei sich behalten und hat Probleme mit der
Atmung! Der ist wesentlich übler dran als wir ... Seine Begleiterin räumt
ihren Platz, da sie sich um die Evakuierung von Tom kümmern will. Also
teilen sich Angie und ich diesen Platz. Ist zwar etwas beengt und ich
beziehe den schmalen Streifen an der kalten Zeltwand, aber immerhin noch
besser als draußen im Schnee zu nächtigen! Da die Liegefläche etwas
abschüssig ist, rolle ich nachts öfter gegen die kalte Zeltplane, nicht
gerade besonders komfortabel aber na ja ... Draußen fällt das Quecksilber
mittlerweile auf –27 °C, im Zelt sind es behagliche +20 °C unter’m Zeltdach
(ha, ha, ha, aber wenigstens trocknen die Socken) und –10°C am Boden. Immer
noch wärmer als draußen im Schnee!
Nach zwei Stündchen Schlaf rappeln wir uns so langsam
wieder auf. Meine Motivation ist bedingt durch die Probleme, die Tom hatte
(der ist nachts zunächst mit einem Snowmobil nach Braeburn und von dort mit
einer Ambulanz nach Whitehorse ins Krankenhaus transportiert worden) und die
Probleme von Shirley (die ist auf der Strecke zwischen CP1 und CP2 während
dem laufen zusammengebrochen und wartet jetzt in ihrem Zelt auf die
Evakuierung) nicht besonders hoch. Außerdem mache ich mir Sorgen um den
Zustand von Angie, denn durch die tiefen Temperaturen wird es auch für sie
nicht einfacher werden, weiterzulaufen. Aber Angie ist nur der Meinung „da
müssen wir jetzt durch!“. Also löschen wir die Gedanken ans aufhören und
schälen uns aus dem Schlafsack! Wie vorher auch schon, machen wir wieder die
Erfahrung, dass das schmelzen von Schnee doch sehr lange dauert. Das Wasser,
welches Jessica am Checkpoint parat hält, reicht eben nicht für alle (und
Wasser braucht jeder !!!). Außerdem helfen wir noch, den guten Eintopf zu
reduzieren (es ist jetzt etwa 3:30 morgens
J)! Der Eintopf, Trinken und das
ausruhen sorgen dafür, dass die Stimmung sich wieder einer Hochphase nähert,
so dass wir uns gegen 4:30 wieder auf den Weg machen (ja ja, das packen
dauert immer noch so lange ...). Außerdem erzählt uns Jessica, dass
unterwegs nach etwa 15 Meilen eine Hütte ist, welche wohl offen sein soll!
Das erhellt die Stimmung nochmals, denn laut Plan sind es dann nur noch etwa
19 Meilen bis ins Ziel! Die werden wir ja dann wohl auch noch schaffen!!!
Wieder auf dem Weg läuft es bei mir im Gegensatz zu Angie recht gut! Sie hat
ihre Probleme, vor allem auch deshalb, weil es halt anfangs immer noch
stockfinster ist. Mich begeistert das Schild ‚Braeburn 50km’ deutlich und
motiviert mich dazu, vor ihr herzulaufen. Ich bleibe immer mal wieder eine
mehr oder weniger kurze Zeit stehen um zu sehen, ob sie nachkommt und gehe
dann aber meistens, sobald sie (bzw. ihre Stirnlampe) in Sichtweite ist,
wieder weiter. Bei einer dieser Pausen bittet sie mich darum, doch bei ihr
zu bleiben (so beschreibt sie es zumindest auf ihrer eigenen homepage; in
der Realität klang das dann etwa so: „Du hast versprochen, bei mir zu
bleiben, wenn ich Dich brauche! Jetzt brauche ich Dich, also bleibe
gefälligst auch bei mir, sonst hör’ ich auf!!!“). Ok: ab diesem Zeitpunkt
lasse ich sie vorlaufen und bleibe hinter ihr. Das trifft sich aber auch
ganz gut, denn der Fitteste bin auch ich nicht mehr und so sind wir alle
zufrieden. Was wir jetzt auch wieder vor Augen geführt bekommen ist die
Tatsache, dass die Dämmerung in Kanada ziemlich lange anhält (das hatten wir
gestern auch schon bemerkt, in der Zwischenzeit aber wieder verdrängt, da
schon wieder viele andere Dinge passiert sind), so langsam fällt mir das
laufen oder Besser gehen auch wieder schwerer und die Stimmung ist schon
wieder auf dem absteigenden Ast. Unterwegs passieren wir David’s Zelt. Er
hatte sich gestern abend (oder war das heute Nacht???) im Checkpoint nach
etwas zu Essen und Trinken verabschiedet und sagte, er wolle unterwegs in
seinem Zelt ordentlich schlafen! Wir würden ihr wahrscheinlich schon von
weitem schnarchen hören! Na ja, zumindest als wir sein Zelt passierten, war
es total ruhig; vielleicht hat er auch nur eine kurze Pause vom schnarchen
eingelegt...
Irgendwann gesellt sich dann unterwegs auch Andreas
wieder zu uns (der war etwa eine halbe Stunde vor uns am Checkpoint
aufgebrochen) und wir beschließen, das nächste Stück (vielleicht bis zur
Hütte ...) gemeinsam zu bewältigen! Er sit einer der Läufer, welche sich für
die 300 Meilen Distanz angemeldet haben. Meine Einschätzung schwankt
zwischen Bewunderung (den Respekt haben sich diese Läufer auf jeden Fall
verdient) und „die sind ja verrückt“ (aber das behaupten manche andere ja
auch von Angie und mir und wir hören das ja auch gar nicht so ungern
J). Anyway: wenn wir in Braeburn
am Ziel sind ‚darf’ Andreas noch 200 Meilen weiterlaufen!!! In der
Zwischenzeit kämpft Angie auch noch mit Durchfall (als ob das laufen nicht
schon anstrengend genug wäre ...), ihr geht es immer schlechter und ihre
Laune ist dementsprechend. Das ändert sich aber, als wir (mittlerweile ist
es schon fast wieder richtig hell) einen Snowmobil-Fahrer treffen, welcher
uns erklärt, die Hütte wäre jetzt nur noch 5 Meilen entfernt! Wie, das kann
doch eigentlich nicht sein; wir waren der Meinung, die müsste gleich hinter
der nächsten Biegung vor uns auftauchen!?! Aber er besteht auf seiner
Entfernungsangabe. Er verspricht uns aber auch, dass diese Hütte mit einem
Ofen ausgestattet sei und wir uns dort aufwärmen könnten. Das beruhigt uns
doch wieder etwas! Er hat ja auch recht mit seiner Entfernungsangabe,
trotzdem glauben wir ab diesem Zeitpunkt keiner Entfernungsangabe mehr, wenn
sie von einem Snowmobil-Fahrer kommt (und sich nicht mit unseren Erwartungen
deckt!). Und dann steht die Hütte vor uns!
Das erste, was ich in der Hütte sehe, ist der Holzofen:
„Ihr könnt machen, was ihr wollt: ich kümmere mich um Holz und heize erst
mal den Ofen an!“ verkünde ich sogleich. Zuerst regt sich leiser Widerstand,
so nach dem Motto: wir wollten doch nicht solange bleiben... Aber das gibt
sich. Nachdem die Hütte schön warm ist, kommt Robert mit seinem Skidoo
vorbei. Nachdem er den Rauch aus dem Schornstein sieht, muß er doch
nachschauen, was da in der Hütte so passiert: „Ach, ihr feiert hier ‚ne
Party!?!“ Aber davon lassen wir uns die Stimmung nicht vermiesen (denn die
ist jetzt wieder viiieeel besser J)!
Das Schneeschmelzen und Wasser kochen teilen wir uns (wir haben ja jetzt 3
Töpfe und das schmelzen des Schnee geht auf dem Ofen bedeutend besser als
mit dem Kocher), dadurch wird die Arbeit für jeden einzelnen etwas
erträglicher. Die warmen Getränke und erst recht das Essen führen dazu, dass
wir zwar müde, aber auch noch zufriedener werden! Und der warme Capuccino
weckt auch die letzten Lebensgeister (zumindest bei uns; Jaquie, eine
Amerikanerin, welche sich in der Zwischenziet zu uns gesellt hat, kämpft mit
der Müdigkeit)! Wir hatten sie unterwegs überholt und ihr versprochen, die
Hütte (auch) für sie einzuheizen, was wir ja dann auch gemacht haben. Sie
hielt das ganze für einen Scherz, war aber dann von der warmen Hütte doch
ganz angetan! Uups, die ganze Pause hat doch schon wieder fast 3 Stunden
gedauert! Wie die Zeit so vergeht, wenn es einem gut geht!!! Da es draußen
schon wieder anfängt zu dämmern, machen wir uns auf den Wegin Richtung
Braeburn.
Kurz vor Angie und mir verlassen Jaoui und auch Andreas
die Hütte, wir brauchen wieder mal am längsten mit dem Packen. Ob wir das
noch etwas üben sollten??? Wir sind gerade dabei, weiterzumarschieren, als
Linda um die Ecke biegt. Linda wohnt in Whitehorse, ist also eine richtige ‚Northerner’in.
Sie hat Pieter und Paul im Schlepptau und diesen versprochen, einen
Griesbrei vorzubereiten. Sie zeigt, wie man fachmännisch (Linda ist mit
einem Ranger verheiratet!) ein kleines Bäumchen in Ofengerechte Stücke
zerlegt! Wow, klasse gemacht! Nach dem Rennen erfahren wir, dass Linda, kaum
im Ziel angekommen, wieder zurückläuft und weitere Läufer ins Ziel
begleitet. Das ist Einsatz!!!
Nach der Pause in der Hütte findet Angie ihre
Motivation durch ihre Position im Wettkampf wieder: es stehen 5 Frauen in
der Starterliste, Linda ist hinter uns in der Hütte beschäftigt und Jaquie
in Sichtweite vor uns müßte dann 3. Frau sein! Das sind noch 14 Meilen, um
sich auf den 3. Platz in der Frauenwertung vorzuarbeiten
J. Also: den MP3-Player anwerfen
und ab geht’s !!! Kurz nach der Hütte ist Jaquie überholt. Das Schild ‚YAU
CP 10 Meilen’, welches bald danach auftaucht, bringt weitere Beschleunigung.
Wenn das so weitergeht … Jetzt ist es wirklich nicht mehr weit bis ins Ziel…
Kaum gedacht, steht eine weitere Herausforderung in Form eines zu
überquerenden Overflow an. Die Stelle ist etwas 30 Meter breit, nicht zu
umgehen und das Wasser über dem Eis sieht noch nicht so richtig gefroren aus
;-). Ich schlage Angie’s Empfehlung, zunächst ohne Pulka zu testen, wie tief
bzw. stabil der ‚Eisbrei’ ist und dann wieder zurückzukommen, in den Wind
und stapfe gleich mit Pulka los! Ist schon ein sehr mulmiges Gefühl, ich
sinke bei jedem Schritt ein paar Zentimeter tief in den Eisbrei ein! Wenn
das mal gutgeht !?! Aber es klappt, die 30 Meter waren wahrscheinlich die
längsten, welche ich in meinem Leben zurückgelegt habe, aber ich komme ohne
Probleme und trockenen Fußes auf der anderen Seite des Overflow an. Angie
folgt ebenfalls ohne Probleme: es kann weitergehen!!!
Die letzten 10 Meilen dieses ‚Laufs’ sind alles andere
als kurzweilig; es geht ständig durch Wald und es ist dunkel (die Sonne hat
sich schon längst wieder verzogen). Da sind nur 2 Lichtlein, welche durch
die winterlich kalte kanadische Einsamkeit wandeln (na ja, eher ein
Lichtlein und der Lichtkegel meiner Stirnlampe
J). Zwischendrin habe ich
mehrmals den Eindruck, daß jetzt hinter der nächsten Ecke gleich auf der
rechten Seite (oder war’s die linke) das Odenwaldklubhaus auftauchen muß! So
ein Schwachsinn, kommentiere ich meine Haluzinationen gleich darauf wieder,
Du bist hier tausende von Kilometern von Groß-Gerau weg und sooo schnell
warst Du hier ja nun wirklich nicht!!! Mann, bin ich müde!!!
Aber dann taucht doch tatsächlich Braeburn Lake im
Kegel der Stirnlampe auf! Ok, von dem See ist nicht viel zu sehen, aber es
gibt weit und breit keine Bäume mehr und die Piste verläuft schnurgerade!
Jetzt ist es wirklich nicht mehr weit…
Wir wundern uns schon etwas, daß die Spur nicht
geradewegs auf die Lichter am linken Seeufer zuläuft, da fällt mir eine
Bemerkung von Tom beim Pre-Race Meeting ein: „Sag’ den Läufern auch, daß es
von Braeburn Lake noch 2 verdammt harte Meilen bis ins Ziel der 100 Meilen
ist!“ Und die Lichter sind bestimmt keine 2 Meilen entfernt. Mal sehen, was
da noch auf uns zukommt …
Diese letzten 2 Meilen sind wirklich nicht ohne! 2
Meilen nur kurze, knackige Bodenwellen! Ist der Läufer oben, zieht die Pulka
nach hinten, in der Talsohle schiebt die Pulka dafür … So’n Sch… Das ist
wirklich noch mal ein hartes Stück Arbeit, besonders, wenn man schon so
lange unterwegs ist!!!
Aber auch diese 2 Meilen gehen irgendwann zu Ende und
dann ist das Zielbanner in Sicht!!! Hurra, wir haben’s geschafft!!! Aber:
außer dem Zielbanner ist da niemand! Und wer bejubelt uns jetzt??? Da gibt
es ein großes Haus, das muß das Restaurant, Motel und die Tankstelle sein.
Also schauen wir dort nach (wir suchen den Eingang in der falschen Ecke und
müßen daher ganz um das Haus herumgehen, aber die paar Meterchen sind auch
noch drin J) und dann stehen wir
in der Tür und werden von Nicola und Udo offiziell begrüßt. Nachdem unsere
Ankunftzeit notiert ist (ist ja schließlich wichtig …), ist das Rennen
endgültig vorbei! Wir haben’s tatsächlich geschafft!!! Im Restaurant sitzen
noch David (der hatte uns während unserer Pause in der Hütte klammheimlich
überholt ;-) und Andreas (der hat ‚nur’ noch 200 Meilen vor sich), welche
sich mit uns freuen, daß wir gut durchgekommen sind.
Jetzt erst mal etwas zu Trinken und vor allem zu Essen
bestellen! Die Hamburger sind wirklich so riesig, wie wir vorher gehört
haben, aber die haben wir uns jetzt auch redlich verdient!
Nach dem Essen ist erst mal ausruhen in einem warmen
Wohnwagen angesagt J

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